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Texte zur Arbeit

Clemens Ottnad - Inventarium der Wechselfälle

Lauf, Gegenlauf. Riesenhafte Portraitköpfe, überlebensgroße Figuren bezeichnen die in jüngerer Zeit entstandenen Malereien von Gela Samsonidse. Die dargestellt aus der Ferne Erinnerten stammen aus dem unmittelbaren Familien- und Freundeskreis des georgischen Künstlers, dergestalt monumental-mystisch sie Erinnerung zu beschwören suchen, den Betrachtenden in eine unentrinnbare Ansichtigkeit zwingen, ein Augenhineinblicken – so diese geöffnet sind und Zugang erlauben. Sie treiben die Präsenz über das Erträgliche hinaus, bedrohlich auch, das eigentliche Menschenmaß übersteige(r)nd eine bewusste und herausfordernde Anmaßung der Wirklichkeit; und darunter findet sich das ebenso raumgreifende Selbstportrait als eindringlich nachforschende Untersuchung desjenigen ein, der sich da ein Bild von sich gemacht hat: vergewissertes Parnass und Pandämonium des Privaten zugleich. In den sich ausbreitenden Malspurfalten der grau chromatisierenden Gesichtszüge ist in der Folge unvermeidlich schnell zwar so versunken, über deren physiognomische Konturen hinausgetreten aber gerät der Betrachter unversehens in andere Soge: die klar umrissenen, in der matten Farbigkeit fahlhäutigen Kopfmassive umgeben helllicht und leichthin kreisende Farbverschlingungen, die ein Maschenwerk als Entgrenzungen gerade des Persönlichen ausbilden, das Blicke verwirbelnd immer tiefer unentwirrbar ins Bildinnere hineinzuführen verspricht, damit auch in die Geschichte-Geschichten hinter den gezeigten Antlitzen geleitet. Oder eben aus deren Mitte heraus – aus dem Hintersinnen in den Vordergrund – verfestigen sich die Farbspindeln wieder zu Kopfkörpern, Schädelwänden und dem dieserart dennoch gleichzeitig so versprochenen Inwendigen des als vereinzelt gezeigten, übergroß nah zu sehenden Individuums zurück. Mannigfache, vielfarbige Aureolen – allerhand Scheine, die sie anzunehmen sich bereit erklärt hatten, abgelegter Heiliger, herausgelöst aus der Bilderwand seligen Rückdenkens – breiten sich tumultuarisch aus, als ob sie der monumental behaupteten Prominenz der nach-gedachten Referenzperson spielerisch leicht ebenbürtig werden wollten: eine Propaganda des Ichs, das dabei rührt an die Vergänglichkeiten, Vergeblichkeit eigenen Tuns, das sich ohnehin im Kreise oft zu drehen pflegt.

Unabhängige Beweggründe. Diese eigentümliche Ausbildung der Figuration und zum Gegenständlichen hin, die Konkretisierung des Gestalthaften aus Strukturen und Flächenschichten heraus – oder als Schicht vor Schichten derselben stehend – kann trotz aller vordergründigen Verschiedenheiten durchaus mit den Entwicklungswegen von früher entstandenen Zeichnungen gesehen werden. Bruchstücke verschiedener Literaturen, Sätze, Sentenzen bildeten dort und seinerzeit den Ursprung, einen im nachfolgenden Bezeichnungsprozess weitgehend zu Unsichtbarkeit gezwungenen Anfangsort der sich allmählich dann auflösenden Lineamente insgesamt; ein Beginnen meint, das vom Künstler durch Mehrfachüberlagerungen oder durch Rücknahmen der Linienschichten (nach Tilgung ebendieser per Radiergummi etwa) teils völlig aufgelöst, mithin vielmehr ausgelöscht wurde. In Umkehrschlüssen kann sich aber auch in Anbetracht jener Blätter mindestens genauso gut eine Lesart einstellen, die die ausfasernden Gedankenfäden, die in wirr verschlungenen Linienknäueln verwobenen Strichdichten zu ihren Wortwurzeln zurückdenkt, gewissermaßen zu ihren Stämmen, einem vorbewusst ursprünglichen Entstehen etwa, aus denen die kohleschwarz kathedralen Lichtgewebe der Zeichnungsbahnen erst entströmten, auch wenn sie dorther jedweder Sinnhaftigkeit – mutwillig oder aus Leichtfertigkeit – bereits ganz entflohen schienen.

Das Eigensinnen der Stoffe. Gewebe, Kontexte, Texturen verstricken die rotierenden Farbganglien in selbständig poetisierende Verstrickungen von Wirklichkeit mitsamt dem Vorwirklichen, und sie sorgen so fortwährend für Übersetzungsfehler im Sehen, (Da)Nachdenken und Empfinden. Dieses Individuelle der Gesichtszüge, das je Eigene der Wesensphysiognomien weicht plötzlich zurück vor Rang und Bedeutung, die die Kleidungsstücke mit ihrer Vermusterung vermeintlich einnehmen, vielleicht auch deshalb, weil gerade ornamentale Formsysteme vor der im Werk so unvermittelt einsetzenden Figuration die Bildwelt von Gela Samsonidse besonders intensiv prägten, die selbst noch in Anwesenheit der gezeigten Gestalten – wenn auch in Territorien geringeren Ausmaßes – weiterhin die Bildgelände zu bevölkern suchen, in ihrem Unwägbaren Wirklichkeit bestimmen.

Blendwerke überall. In gegenübergestellten Wertigkeiten von Strenge und Leichte, Geschlossenem und Offenheiten, Helligkeiten und Dunkel waren jene Farbkompositionen des Künstlers gesetzt. Lichtere Farbnetze und Schlingenfelder treten dabei fast verschwindend hinter Gattern und Vergitterungen zurück, vor denen wiederum organisch weißlich graue Kreisgebilde ineinander verkettend schweben. Schicht um Schichten, dieses gleichzeitig undurchdringlich starre und in fragiler Auflösung begriffene Schweben klärt sich in Arbeiten auf, die farbige Strukturenfelder nebeneinander abgelegt zeigen, die Verschlingungen dehnen, entzerren, verlangsamen auch. Lauthalses Umkreisen, Zusammenballen, Drehen des Strichs erscheint dann an Bildränder abgedrängt, transparente Waagrechtschleier lassen – Vorhängen, Jalousien gleich die verschleierten Sehweisen – lassen rätselhaft Ornament, Wandschmuck, Tapete erahnen. Unentscheidbare Blickpunkte sind dabei zugleich in Innenräume hinein wie nach außen (Dort!) gerichtet, sodass auch diese Vorstellwelten weiter ihre Kreise ziehen, Klänge fortsetzen, Reigen spielen.

Fadenlauf, verhaltene Weite. Toniger, blass verschwimmender, flüchtig gesetzt und häufig vorgefundenen orthogonalen Mustern und Webarten folgend sind so die textile Chiffren von Kleidung in den großen Leinwandportraits dargestellt, die flächig gehalten eine Art Sockelzone für die Einzelpersönlichkeiten bezeichnen. Die Figur umfangend, einfassend gestehen erst die ungestüm sich gebärdenden, leuchtenden Farbkreise(l) den Wesen Wesentliches zu, Beseeltheiten der Persönlichkeit vielmehr, obwohl gerade sie, die mobil freien Formen – so offenbar unstofflich zwar – ganz nichtmateriale Hüllenschicht verkörpern, die in ihren fortschreitenden Verkettungen den Bildgrund entrücken. Im labyrinthischen Augenspiel die Wegesysteme verfolgend muss die Frage nach dem Davor und Dahinter letztlich allerdings aussichtslos bleiben; nur Andeutungen eines partiell Durchscheinenden sind wahrzunehmen, Ahnungen also (entgegen Verstehen), wie Bildersehen überhaupt nur zulässt, wie Begegnung auch menschlicher Gegenüber. Kleid wie Flügel mimen so die Anmutung eines – unter Verdacht genommenen (wie gewussten) – Überall, ein länger in der Schwebe sein als unsere argwöhnischen Feststellungen von Zeit belieben. Umgehend in himmelreiche Nahsicht vielleicht versetzt glänzt silbrig dieses nietenbewehrte Maschinentragwerk, das zwar in wolkenloser Sicherheit wiegt, den Ausblick nach unten aber verwehrt, als ob das Unterwegssein (eine Verkettung mehr oder minder glücklicher Zustände eines Dazwischen) an sich bezeichnet wäre, ein beliebiges Irgendwo, das es mit Anwesenheiten zu beseelen gilt wie jeden anderen Raum, in den uns die Arbeiten von Gela Samsonidse versetzen.

Wechselfälle um Armeslänge. Inmitten genannter, dieser anhaltenden Momente, also tragfähigen Ewigkeiten stürzen die Malereien, entwickeln die Inventarien ihr Eigenleben, nimmt auf den sich weit ausbreitenden Bildfeldern eigene Geschichte den Charakter denkmalener Geschichtlichkeit – Monumentalisierung des scheinbar Unbedeutenden zur Vorzeit – an, und sie versiegt wieder im Farbtaumeln: mit langsamem Atmen die Sekunden zählen, die nur verrinnende sind, dagegen aber Erinnerungsräume aufzustoßen, sich Sinnschleifen hinzugeben, Mausoleen abgelegener Vergeblichen, Fluchtpunkte, Refugien der vielen Tage so, Blickwechsel (still: Augenwende), vor denen wir unser Denken denken, Fühlen fühlen, den Faden aufnehmen, das Knäuel zu entwirren versuchen, die für minotaurische Anlagen gesehen auch einen möglichen Ausgang bereithielte, wenn die Ideengesichte Wesengeben zuließen – dahinter, dahinter: dunkle Augen, Ortlosigkeit so verschwiegener Gründe.

 

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